2  Einführung

2.1 Vorwort zum Geleit

Kinder sind soziale Wesen. Sie entwickeln sich in zunächst massiver Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Wir prägen ihre Biographie, körperliche, seelische und geistige Entwicklung (vgl. §35 SGB Seelische Gesundheit), maßgeblich durch unser Handeln. Bei der sich rasant entwickelnden Digitalisierung muss die jeweilige Faktenlage durch eine fachlich kompetente Einschätzung der zukünftigen Entwicklung und deren Konsequenzen für die Gesundheit der Kinder ergänzt werden. Diese Leitlinie basiert daher auf dem Grundprinzip „Handeln aus Einsicht”. Die Form, Funktionalität und Beschaffenheit der Räume und Gegenstände, das von Liebe und Wohlwollen geprägte soziokulturelle Umfeld und die geistige Wachheit, Agilität und Weltanschauung der Mitmenschen wirken, zunächst sehr unmittelbar und später mittelbarer, gestaltend auf die Hirnstrukturen, Gewohnheiten, Fähigkeiten, Wünsche und Interessen des Kindes ein. Bildung und Beziehung sind die für die menschliche Gesundheit maßgeblichen Variablen. Zugleich hat jedes Kind zusätzlich ein, bei manchen Kindern erstaunlich starkes, freies innewohnendes Entwicklungspotential, das aus sich heraus dazu führt, dass es sich auch unter „ungünstigsten” Bedingungen zum Höchsten entwickeln kann. Man kann bei der Beurteilung und Beratung zur Medienerziehung in die Falle tappen, die Schuld bei den Eltern zu suchen und zu übersehen, welche Rolle die Eigenschaften des Kindes einerseits und die gesellschaftlichen Bedingungen andererseits spielen. Eine phänomenologische, vorurteilsfreie Beobachtung und Beratung der Gesamtsituation mit „positiver Voreingenommenheit” und in dem Wissen, dass fast alle Eltern das Beste für ihre Kinder wollen, ist notwendig. Durch ein vorwiegendes Ansetzen an den realen Ressourcen von Kindern und Erwachsenen und deren Förderung und Verstärkung wird die Gefahr vermieden, dass durch das Wegnehmen von digitalen Ressourcen eine Leere entsteht, die im schlimmsten Fall mit noch Ungesunderem gefüllt wird.

Wirklich tiefgreifende Veränderungen im Leben entstehen vor allem durch innere Einsichten, nicht allein durch Regeln und Strukturen. Im familiären Zusammenhang bedeutet dies auch Reflexion und Bewusstsein der eigenen Vorbildfunktion. So wird es für die vorliegende Leitlinie vor allen Dingen darauf ankommen, dass es gelingt, Einsicht und Motivation zur Umsetzung der zunächst abstrakt gehaltenen Empfehlungen zu generieren. Diese Leitlinie richtet sich an Menschen, die im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit mit Eltern, Kindern und Jugendlichen an dem Thema „Bildschirmmedien” arbeiten. Dazu werden Kommunikationsmaterialien, dialogische Prozesse und kreative Lösungen gebraucht. Wir brauchen Negativbeispiele und Warnungen, aber vor allem „Best Practice”-Beispiele, die begeisternd und ansteckend sind und die individuellen Geneigtheiten des jeweiligen Kindes berücksichtigen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Eltern die „Sprache ihres Kindes” immer besser verstehen lernen. Eltern brauchen Anregungen, die Vitalitätszustände ihres Kindes einschätzen zu können. Zu wissen, wann das Kind müde, fröhlich, hungrig oder unzufrieden ist, ist von zentraler Bedeutung, um zu entscheiden, welche Art der Interaktion gerade sinnvoll oder notwendig ist. Dabei ist zu betonen, dass das Kind eine Persönlichkeit hat, die sich in Interaktion mit den Eltern und gemeinsam mit diesen entwickelt. Leser*innen sollten auch die Bedeutung einer allgemeinen Sinnespflege kennen. Dazu gehören der Sinn für das eigene Wohlbefinden, eigene Bewegungen, eigene Gedanken und der Sinn für das „Du” des Gegenübers. Eltern, die eine gute Wahrnehmung für die Lebensäußerungen ihres Kindes haben, sich selber ihrer Vorbildfunktion bewusst sind und sich täglich mit Zeit, Zugewandtheit und Feinfühligkeit ihren Erziehungsaufgaben widmen, können auch heutzutage ein gesundes Aufwachsen in der Medienlandschaft ermöglichen und auch „Ausrutscher”, wie sie in jedem Bereich der Pädagogik zu finden sind, gegenregulieren und ausgleichende Möglichkeiten finden.

Es ist wichtig, dass Erwachsene sich bewusst sind, dass Kinder, unabhängig vom Lebensalter, keine kleinen Erwachsenen sind. Es muss berücksichtigt werden, dass in den ersten drei Lebensjahren wesentliche Prozesse der neuronalen Reifung und Strukturierung des kindlichen Gehirns stattfinden und in vielen Bereichen auch abgeschlossen werden, insbesondere in der sensomotorischen Entwicklung. Kinder brauchen umfangreich Gelegenheit, sich in der dreidimensionalen Welt kreativ zu betätigen sowie vielfältige reale Erfahrungen mit allen Sinnen zu machen. Je weniger Übung Kinder haben, eigene innere Bilder zu erzeugen, desto schwerer fällt es ihnen, ihre Vorstellungskraft zu entwickeln [1]. Kleine Kinder nehmen die Welt anders wahr, so dass Eltern und Kind zwar in derselben Umgebung sein mögen, sie jedoch ein sehr unterschiedliches Erleben und Wahrnehmen aufweisen. Kinder haben Bedürfnisse, die denen der Erwachsenen oft nicht entsprechen. Kinder brauchen daher vor allen Dingen sehr viel Zuwendung und feinfühlige Wertschätzung. Kindeswohl verlangt nach Eltern, die bereit sind, sich zum Verständnis ihrer Kinder auf einen ständigen Lern- und Weiterbildungsweg zu begeben und die sich Zeit für die Kinder nehmen. Als Ausgleich zur allgemein geforderten Medienkompetenz, soll analoge Zukunftskompetenz ein weiteres gesellschaftliches Ziel darstellen. Insbesondere Kinder sollen lernen und durch die Eltern erfahren, dass explizit die Zeit, die man nicht an Bildschirmmedien verbringt, im Leben zählt.

Die Zeit, während der Kinder mit Bildschirmmedien beschäftigt sind, fehlt für den Erwerb analoger Fähigkeiten (Reden, Sozialverhalten, Motorik etc.). Diese Leitlinie bietet eine formale Grundlage für die Erziehung zum Umgang mit Bildschirmmedien. Die empfohlenen Materialien mögen das Ihre dazu beitragen, entwicklungsgefährdende Verhaltensweisen der Erziehenden frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

„Der Mensch wird am Du zum Ich.” (Martin Buber)

2.2 Hintergrund

Die meisten Expert*innen sind sich einig: Kleine Kinder verbringen durchschnittlich zu viel Zeit mit Bildschirmmedien [2] [3], Tendenz steigend [4]. Zusätzlich beschleunigt durch die Corona-Krise nehmen Bildschirmmedien einen nie zuvor dagewesenen Stellenwert im alltäglichen Leben ein. Unterricht wird in virtuelle Klassenzimmer verlegt, Kindergartenkinder folgen digitalen Spielgruppen am Bildschirm. Erwachsene wie Kinder finden mehr denn je Zeitvertreib mit digitaler Kommunikation, Filmen und Computerspielen. Erwachsene verbringen nach einer aktuellen Umfrage in Deutschland heutzutage zirka ein Drittel ihrer Lebenszeit online [5]. Trotz aller Chancen und Potenziale, welche Bildschirmmedien haben, dürfen wir nicht vergessen, dass es Schattenseiten gibt: Je jünger die Person und je ausdauernder die Nutzung, desto ausgeprägter.

Aufbauend auf diesen Überlegungen können folgende übergeordnete und zusammenfassende Grundsätze zur Bilanzierung von Chancen und Potentialen von Bildschirmmedienexposition in Kindheit und Jugend auf der einen Seite, und Risiken auf der anderen Seite Orientierung bieten. Mößle formuliert sechs Daumenregeln zur Chancen-Risiko-Abwägung von kindlicher Bildschirmmediennutzung [6], welche demnach von folgenden Faktoren abhängt:

  • vom Alter der Nutzenden: Je jünger, desto schlechter

  • von der Nutzungsdauer: Je länger, desto schlechter

  • von Alltags- vs. Labor-/Schul-Setting: Im Experiment/Schule besser, Alltags-Nutzung schlechter

  • vom Zeitraum der Erfassung von Folgen: Kurzfristig besser, langfristig schlechter

  • von Verarbeitungshilfen: Unbegleitete kindliche Nutzung schlechter

  • von der Art der Lernleistung: Prozedurales Wissen besser als faktenbasiertes Wissen

Bildschirmmedien wirken sich auf Kinder gesundheitlich ungünstiger als auf Erwachsene [7] [8] aus. Insbesondere die „time displacement hypothesis” [6] (Zeitverdrängungshypothese), also dass Bildschirme wie Zeiträuber fungieren und ein Kind, das mehr Zeit am Bildschirm verbringt, weniger Zeit mit entwicklungsförderlichen Aktivitäten in der wirklichen Welt verbringen kann, kann hier als wesentlicher Erklärungsansatz genannt werden. In der Kleinkindzeit geht übermäßige Nutzung von Bildschirmmedien, sowohl durch die Eltern als auch durch die Kinder selber, mit zahlreichen negativen gesundheitlichen Auswirkungen einher (z. B. Regulations- und Bindungsstörungen [9] [10], Entwicklungsstörungen [11], insbesondere der Sprache und Kognition [12] [13]), wobei die Datenlage zunächst kontrovers erscheint. Tatsächlich ergeben sich negative Befunde häufiger bei Studien mit hoher Qualität, z. B. Längsschnittstudien, positive Befunde jedoch vorwiegend in experimentellen Studien, in welchen ein pädagogisch intendierter Bildschirmmedieneinsatz untersucht wird oder in Studien, in welchen nur wenige intervenierende Variablen erfasst werden [14].

Vieles deutet darauf hin, dass die langfristigen Auswirkungen dysregulierter Nutzung von Bildschirmmedien mit erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden sind, jedoch gibt es dazu mangels randomisierter Untersuchungen nur Schätzungen [12]. Insbesondere ist eine weitere Differenzierung von rezeptiven und interaktiven Bildschirmmedien in künftigen Studien zur Medienwirkungsforschung notwendig sowie auch weitere Unterscheidungen in der Art und Weise der Nutzung: Es ist nötig, dass in weiteren Forschungsprozessen detaillierte Nutzungsprofile von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden (z. B. findet die Bildschirmnutzung zu Hause/unterwegs statt? Wie lang sind die NICHT durch den Blick aufs Smartphone oder andere Geräte unterbrochenen Zeitfenster? Werden die Bildschirmmedien zur Weiterbildung genutzt oder zum privaten Zeitvertreib/ aus Langeweile?). In Studien zum Bildschirmmedienkonsum im Kontext von Bildungseinrichtungen werden bisher meist nur die Auswirkungen auf Lernleistungen erfasst [15] [16], aber nicht die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die körperliche und psychosoziale Entwicklung. Auch liegen bisher keine Studien vor, welche den Einfluss von Bildschirmmedieneinsatz in Bildungseinrichtungen durch die Fachkräfte auf die Fachkraft-Kind-Interaktion untersuchen, ähnlich der Untersuchung von „technoference” in Studien zur elterlichen Nutzung.

Über die Auswirkungen auf lebenswichtige Kompetenzen wie Einfallsreichtum, Handlungskompetenzen, handwerkliches Geschick, künstlerische, sportliche und musikalische Fähigkeiten und Neigungen, kann nur spekuliert werden. Es ist jedoch zu befürchten, dass es erhebliche Auswirkungen gibt [1]. Die Reduktion der Exposition von Bildschirmmedien in den ersten Lebensjahren geht hingegen mit positiven Effekten in zahlreichen Entwicklungsdomänen einher (u.a. exekutive Funktionen, Feinmotorik [3], Aufmerksamkeit, prosoziales Verhalten [17]). Studierende, die ihre Handys in Vorlesungen nicht benutzten, notieren sich 62 % mehr Informationen und können sich an detailliertere Informationen aus dem Unterricht erinnern [18]. In den USA ist die Verringerung der Bildschirmzeit auch kleiner Kinder ein nationales Gesundheitsziel [19]. China, welches als Vorreiter im Bereich der Bildschirmmedien gilt, bezeichnet Online-Spiele als “geistiges Opium” und “elektronische Drogen”, und beschränkt daher neuerdings die Online-Videospielzeit für Kinder und Jugendliche auf drei Stunden pro Woche! Deutsche Stellungnahmen von Verbänden und Gesundheitsorganisationen (BVKJ, DGKJ, DGSPJ, BZgA, klicksafe.de, schau-hin.info und
bildschirmfrei-bis-3.de) empfehlen, Kinder unter 3 Jahren ganz von Bildschirmmedien fernzuhalten.

Um Empfehlungen wie diese in der Gesundheitsversorgung zu implementieren, sind kostengünstige und in der Routineversorgung skalierbare Interventionen notwendig. Die vorliegende Leitlinie soll einen theoretischen Beitrag hierzu leisten.

2.3 Bildschirmmedien

Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts bewirkte die wachsende Verfügbarkeit von Fernsehgeräten – dem wohl ersten digitalen Bildschirmmedium, mit immer längeren Sendezeiten und immer mehr Programmen – tiefgreifende Veränderungen hinsichtlich der Freizeitgestaltung der Bevölkerung. Von enormem Einfluss auf die Gesellschaft ist nun die Verbreitung des Internets, mobiler Endgeräte sowie von Softwareentwicklungen, beispielsweise im Kommunikations- oder Computerspielebereich [20]. So hat der rapide technologische Fortschritt auf diesem Gebiet innerhalb der letzten Jahre dazu geführt, dass Bildschirmmedien fest in das tägliche Leben integriert sind [21]. Hierbei ist zu differenzieren zwischen der freiwilligen bzw. optionalen Nutzung für Unterhaltungszwecke, der verpflichtenden Nutzung (z. B. im Arbeitskontext) und der Nutzung, die aufgrund des Rückbaus analoger Alternativen durch übergeordnete Akteure für den einzelnen Konsumenten „quasi-verpflichtend” wird. In Bezug auf Bildschirmmedien kann zwischen traditionellen Bildschirmmedien und neuen Bildschirmmedien unterschieden werden. Bei traditionellen Bildschirmmedien, wie dem Fernseher, werden Inhalte passiv konsumiert. Neue Medien, zu denen die interaktiven und sozialen Medien zählen, bieten dem Nutzer hingegen die Möglichkeit, bestehende Inhalte und Anwendungen (Apps/Games) passiv oder auch interaktiv zu nutzen oder andererseits eigene Inhalte oder sogar Anwendungen aktiv zu produzieren [22]. Der Begriff „Soziale Medien”, eine Bezeichnung, die einen gewissen Euphemismus aufweist, dient häufig als Oberbegriff für verschiedene Typen interaktiver Medien, welche eine große Variabilität an Eigenschaften und Zielsetzungen aufweisen [23]. Auch in Deutschland steht die Nutzung sozialer Medien an erster Stelle [24]. Mütter, Väter sowie Bezugspersonen und Erziehungsbeauftragte von Kindern und Jugendlichen in jedem Lebensalter sind zunehmend verunsichert in Bezug auf den freiwilligen sowie den fremdbestimmten Konsum von Bildschirmmedien [25]. Es ist ein bewusster Umgang erforderlich, um Chancen und Risiken im Blick zu haben und kritisch in der Auswahl der Bildschirmmedien zu sein. Medienmündigkeit, also die Fähigkeit, digitale Medien gezielt einzusetzen, aber auch auf sie verzichten zu können und die Inhalte kritisch zu bewerten, soll bei den Eltern/Bezugspersonen gefördert werden. Hierbei ist die beabsichtigte Medienmündigkeit, als ein Gegenbegriff zu Mediensucht, von der Medienkompetenz abzugrenzen. Wenngleich unter dem Begriff Medienkompetenz im akademischen Diskurs [26] häufig nicht nur die Fähigkeit, Medien und ihre Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend zu nutzen, verstanden wird und ein breiteres Verständnis angenähert an das o. g. Verständnis von Medienmündigkeit formuliert wird, so wird im öffentlichen Diskurs Medienkompetenz häufig auf die technische Bedienfertigkeit reduziert. Unter anderem setzt sich die Kinderkommission des Deutschen Bundestages für ein abgestuftes Bildungskonzept der Medienmündigkeit ein, welches Alter und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt: „Ziel der schulischen Medienbildung ist die allgemeine Medienmündigkeit im Sinne eines kritischen Verständnisses der Medien und der Befähigung zu ihrer souveränen und verantwortungsbewussten Nutzung. Es braucht ein „Gesamtkonzept Medienbildung”, das Schule, Eltern und außerschulische Akteure fachlich und pädagogisch einbezieht und altersangemessen strukturiert ist” [27]. Auch Expert*innen fordern vermehrt eine intensive Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Medienrevolution sowie mit medienmündigen Schüler*innen und Lehrkräften [28]. Hier ist vor allem auch der soziale Druck entscheidend, der auf Kinder und Jugendliche aufgebaut wird, welche bestimmte Medien nicht konsumieren und/oder über die aktuellen Trends nicht „Bescheid wissen”. Medienmündigkeit, die auch den aktuellen Verzicht auf Mediennutzung beinhaltet, darf nicht zu Ausgrenzung führen.

2.4 Definition einer dysregulierten Bildschirmmediennutzung

Der stärkste Prädikator für emotionale oder soziale Probleme im Zusammenhang mit der Nutzung von Bildschirmmedien ist die Rolle, die diese Medien im Familiengefüge spielen, also sowohl die Funktionen, die sie aus der Elternsicht einnehmen als auch die Art und Weise, wie Kinder die Geräte nutzen. Also nicht nur allein die Zeit, die die Familienmitglieder damit verbringen. Im Folgenden findet sich eine Auswahl an Warnzeichen, welche, auch wenn diese einzeln auftreten, auf eine dysregulierte Bildschirmmediennutzung hinweisen [29]:

  • Kontrollverlust: Es fällt dem Kind/Jugendlichen schwer, mit der Nutzung von Bildschirmmedien aufzuhören.

  • Verlust des Interesses: Bildschirmmedien sind das Einzige, was das Kind/den Jugendlichen zu motivieren scheint.

  • Besorgniserregende Beschäftigung: Das Kind/der Jugendliche scheint nur noch an Bildschirmmedien zu denken.

  • Psychosoziale Folgen: Die Nutzung von Bildschirmmedien durch das Kind/den Jugendlichen beeinträchtigt die Familienaktivitäten.

  • Ernsthafte Probleme durch die Nutzung: Die Nutzung von Bildschirmmedien durch das Kind/den Jugendlichen verursacht Probleme in der Familie.

  • Rückzug: Das Kind/der Jugendliche ist frustriert, wenn es/er keine Bildschirmmedien nutzen kann.

  • Verträglichkeit: Die Zeit, in der das Kind/der Jugendliche Bildschirmmedien nutzen möchte, wird immer länger.

  • Täuschung: Das Kind/der Jugendliche nutzt heimlich Bildschirmmedien.

  • Flucht/Stimmungsaufhellung: Wenn das Kind/der Jugendliche einen schlechten Tag hatte, scheinen Bildschirmmedien das Einzige zu sein, was ihm hilft, sich besser zu fühlen.

  • Schulischer Leistungsabfall: Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafmangel und Schulfehltage des Kindes/des Jugendlichen gefährden die schulische Entwicklung.

2.5 Nutzung digitaler Medien in der Kindheit und Jugend

Kinder sind in der heutigen Zeit mehr Technologien ausgesetzt, als in vergangenen Jahrzehnten. Ihnen stehen ebenfalls mehr Bildschirmmedien zur Verfügung, was mit einer Erhöhung der Bildschirmnutzungszeit einhergeht [30]. Dabei wird der Einfluss der traditionellen Medien mehr und mehr durch den Gebrauch interaktiver digitaler Medien verdrängt und ergänzt [4] [22] [31]. Seit der Einführung und Verbreitung von Tablets und Smartphones werden immer mehr Tätigkeiten in Haushalten mittels Bildschirmmedien verbunden [22], wie beispielsweise das Einkaufen oder die Information über haushaltsrelevante Tätigkeiten. Jüngere Kinder und Kinder aus Familien mit niedrigerem sozioökonomischem Status nutzen mobile Mediengeräte vermehrt zu Unterhaltungszwecken, anstatt mit pädagogischer Intention [32] [33]. Es gibt Hinweise auf einen Bildungsgradienten in Bezug auf das Verhältnis zwischen unterhalterischer und edukativer Verwendung von mobilen Mediengeräten [33]. Die Geräteentwicklung hat auch das Nutzerverhalten in Bezug auf Bildschirmmedien verändert. Während im Jahre 1970 Kinder ungefähr im Alter von 4 Jahren begannen, regelmäßig fernzusehen, kommen Kinder heutzutage in den USA häufig bereits im Alter von 4 Monaten in Kontakt mit Bildschirmmedien [22]. Durch die Möglichkeit, Videospiele auf mobilen Geräten verfügbar zu machen, werden diese in höherem Ausmaß in den Alltag integriert [22]. Die simultane Nutzung mehrerer Medien zur selben Zeit ist bei vielen Jugendlichen normal und ist mittlerweile selbst bei Kindern unter 4 Jahren zu beobachten [34].

Der Anteil an Kindern, die mindestens einmal am Tag Bewegtbilder über das jeweilige Gerät konsumiert haben, betrug 2020 unter den 3- bis 10-Jährigen über 70 % für das Fernsehgerät und rund 20 % für Tablet und Smartphone. Ab der Altersgruppe der 11- bis 13-Jährigen beträgt der Anteil für das Fernsehgerät nur noch 60 % und weniger, wohingegen der Anteil der Smartphonenutzung auf über 50 % ansteigt [35].

Fernsehen besaß im Jahr 2020 unter Kindern und Jugendlichen als Freizeitaktivität die größte Relevanz. 70 % aller Kinder gaben an, jeden oder fast jeden Tag fernzusehen. Die Bildschirmzeit vor dem Fernseher betrug rund 58 Minuten Fernsehen täglich [36]. In Deutschland ist laut miniKIMStudie immer noch der Fernseher das Leitmedium bis zum Ende des Kindergartenalters [4]. Fernsehen ist unter Kindern und Jugendlichen das Medium, das am ehesten allein genutzt wird, mit steigendem Anteil je Altersgruppe. Während 39 % der im Jahr 2020 befragten 6- bis 7-Jährigen angaben, alleine fernzusehen, lag der Anteil bei den 12 bis 13-Jährigen bei 58 %. In dieser Altersgruppe war Fernsehen nicht mehr das am häufigsten alleine genutzte Medium. Vorrang hatten im Internet surfen (74 %), Handyspiele (67 %) und im Internet Informationen für die Schule suchen (64 %) [36].

Fernsehgeräte, Internetzugänge sowie Smartphones sind fast flächendeckend in den Haushalten vorhanden. 2020 besaß rund die Hälfte der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren ein eigenes Handy oder Smartphone, rund 49 % eine Spielekonsole. Computer sind in mehr als 80 % der Haushalte zu finden. Laut der Kinder-Medien-Studie (KIM) steigt die Besitzhäufigkeit elektronischer Gerätebesitz mit zunehmenden Alter an. Schon 2018 besaßen 17 % der 6-Jährigen ein eigenes Handy oder Smartphone, im Alter von 13 Jahren waren es bereits 92 % [37].

Was die Nutzung sozialer Medien betrifft, so stellt WhatsApp bei allen Altersgruppen zwischen 10 und 18 Jahren das beliebteste Produkt dar. Es folgt in den Altersstufen zwischen 12 und 18 Jahren Instagram, dicht gefolgt von Snapchat. Bei den Kindern im Alter von 10 bis 11 Jahren steht jedoch Tik Tok an zweiter Position. Facebook und Twitter sind nach wie vor insbesondere bei älteren Jugendlichen beliebt. Nachrichten werden bei den 10- bis 18-Jährigen vorwiegend über Bewegtbilder konsumiert [38].

2.6 Nutzung digitaler Medien in den Zeiten von Pandemien und Isolation

Die Corona-Pandemie und die begleitenden Maßnahmen zu deren Eindämmung haben die Entwicklung von Verhaltenssüchten erhöht [39] [40]. Dazu trugen Faktoren wie der Fortfall von alternativen Angeboten, soziale Isolation und erzwungene Inaktivität sowie Bedeutungsgewinn von Online-Angeboten bei. Wesentliche soziale Kontakte wie z. B. die Kontakte zu Großeltern und Freunden sowie Sport etc. konnten zum Teil über Wochen und Monate nur über den Bildschirm stattfinden. Gleichzeitig ermöglichte die Technik die Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte. In einer Forsa-Befragung im Auftrag der DAK-Gesundheit zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 gaben Heranwachsende als Gründe für Gaming und Soziale-Medien-Nutzung vor allem an, Langeweile bekämpfen, soziale Kontakte aufrecht erhalten, Stress abbauen und Sorgen vergessen zu wollen. Während des ersten Lockdowns 2020 stiegen die Nutzungszeiten beim Gaming werktags durchschnittlich um 75 % an, von 79 auf 139 Minuten am Tag. Ebenso stiegen die Zeiten für die Nutzung sozialer Medien um 66 % von 116 auf 193 Minuten [41]. Eine weitere Studie bestätigt die deutliche Zunahme der Häufigkeit und Dauer der Nutzung von Games und sozialen Medien während des Lockdowns [42] [43]. Gleichzeitig haben als Folge, bei bereits vor Corona bestehenden Störungen in Bezug auf die Mediennutzung, die Schwere zugenommen und die Remissionschancen abgenommen [44]. Von einem erhöhten Rückfallrisiko kann ebenfalls ausgegangen werden [45].

2.7 Digitaler Fernunterricht

Im digitalen Fernunterricht werden Unterrichtsinhalte über Plattformen auf digitalen Bildschirmen bereitgestellt und/oder Unterrichtsstunden per Videokonferenztechniken in virtuellen Klassenzimmern durchgeführt. Kinder, die per digitalem Unterricht beschult werden, verbringen somit wegen der Schulpflicht umständehalber täglich viele Stunden vor Bildschirmmedien. Eine Übersichtsarbeit, die internationale Studienergebnisse zusammenfasst, zeigt, dass Schüler*innen in Deutschland im ersten Lockdown nicht gelernt, sondern eher verlernt haben. Der Effekt auf die Lernleistungen war etwa dem von Ferien vergleichbar [46]. Im zweiten Lockdown sah es nicht viel besser aus [47]. Bei laufendem Gerät ist die Versuchung, gleichzeitig zum Unterricht Spiele zu nutzen, im Internet zu surfen und Ähnlichem, sehr verlockend. Unklar ist zudem in allen Bildungsschichten, wieviel der Leistungen eigenständig vom Schüler/von der Schülerin, und wie viel von den Eltern/Geschwistern etc. erbracht wurden.

Es muss davon ausgegangen werden, dass für eine Einschätzung der gesundheitlichen Risiken die Summe der Bildschirmmediennutzung für Schule und Freizeit zusammengenommen ausschlaggebend ist. Gerade für jüngere Kinder, die bisher nicht über eigene internetfähige Digitalgeräte verfügten, birgt die Verfügbarkeit die Gefahr, dass über die schulische Nutzung hinaus auch die Freizeitnutzung stark zunimmt. Im Mittel sind die Nutzungszeiten bei Kindern mit eigener Geräteverfügbarkeit etwa doppelt so hoch wie ohne, der Kontakt mit nicht altersgemäßen Inhalten steigt um ein Sechsfaches [6]. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass digitaler Unterricht dieselben Beschwerdebilder mit sich bringt, wie die klassische Büroarbeit bzw. Bildschirmtätigkeit: Kopfschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit, muskuloskelettale Erkrankungen sowie Erkrankungen der Augen. Ein großer Teil der Kinder verfügt über keinen Zugang zu umfassend ausgestatteten PC-Arbeitsplätzen und folgt somit dem digitalen Unterricht auf mobilen Endgeräten. Nicht zuletzt, weil viele Schulen zur Sicherstellung des digitalen Unterrichts dazu übergegangen sind, Tablets in großen Mengen zu kaufen oder von der Industrie als Geschenk entgegen zu nehmen und als Leihgeräte an Schüler auszugeben. Diese Entwicklung ist bedenklich, da die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aufgrund der erhöhte Risiken physischer Beanspruchung dazu rät, Tablets und Smartphones nur kurzzeitig zu nutzen [48]. Zudem steigt durch die Nutzung von Bildschirmmedien und Weiterentwicklungen in der Kommunikation die damit verbundene Informationsflut, was zu einer Steigerung der Erwartungen an das Arbeitstempo und Arbeitspensum des Einzelnen und folglich zu psychischen Überbeanspruchungen führen kann. Daher sind neben den klassischen ergonomischen Gestaltungen von Bildschirmarbeitsplätzen zunehmend Faktoren wie Arbeitsorganisation, Selbstmanagement und Kommunikationsfähigkeit von Relevanz. Nicht zuletzt deuten Studienergebnisse auf einen negativen Effekt von Schulschließungen auf die Schülerleistungen insbesondere bei jüngeren Schülern und Schülern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status hin und darauf, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um diese negativen Effekte abzumildern [46]. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Digitalisierung, wenngleich wichtig, kein Heilsbringer für alle pädagogischen Herausforderungen ist, und dass die Technik der Interaktion zwischen Menschen sinnvoll untergeordnet werden sollte [15].

2.8 Vorbildfunktion im Umgang mit Bildschirmmedien

Die Förderung der Selbstwirksamkeit der Eltern oder die Änderung des Erziehungsstils, können vielversprechende Ansätze zur Verkürzung der Bildschirmzeit von Kleinkindern sein [49]. Aus dem Bereich des Essverhaltens ist bekannt, dass das Vorleben eines gesunden Verhaltens durch die Eltern eine wichtige Methode ist, um die Ernährungsqualität der Kinder zu beeinflussen, möglicherweise sogar mehr als die tatsächliche Qualität der Ernährung der Eltern [50] [51]. Eltern sollten als wichtiger Mechanismus zur Veränderung des Gesundheitszustands von Kindern dienen, indem sie ihr eigenes gesundheitsbezogenes Verhalten verbessern [52]. Auch Geschwister haben einen besonderen Stellenwert in Bezug auf das Nutzungsverhalten von Bildschirmmedien, da sie sowohl als Gleichaltrige (Peers) als auch als Familienmitgliedeine anhaltende Einflussnahme haben.

In westlichen Ländern leben die meisten Geschwister über einen längeren Zeitraum zusammen, unterhalten sich täglich und verbringen viel Zeit miteinander. Es ist wahrscheinlich, dass sie mehr Zeit miteinander verbringen, als mit ihren Eltern [53], da sie in der Regel die langlebigste Beziehung zwischen Familienmitgliedern unterhalten – sogar länger als Eltern-Kind- oder Ehepartner-Beziehungen [54]. Übersichtsarbeiten zu Korrelaten zur Bildschirmnutzungszeit von Vorschulkindern ergaben keinen Zusammenhang zwischen der Anwesenheit von Geschwistern und sitzenden Beschäftigungen, einschließlich Fernsehen oder elektronischen Medien [55] [56]. Dennoch enthält die Literatur zur Kinderentwicklung zahlreiche empirische Belege dafür, dass sich Geschwister positiv auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung des anderen auswirken [53]. So nimmt beispielsweise für jede Stunde, die ein Kind ohne seine Geschwister vor dem Fernseher verbringt, die Zeit, die das Kind in Interaktion mit den Geschwistern verbringt, ab. Und zwar nicht etwa nur um diese eine Stunde, sondern um zirca eineinhalb Stunden. Für jede Fernsehstunde nimmt auch die Interaktion mit den Eltern ab, dazu die mit Hausaufgaben und die mit kreativem Spiel verbrachte Zeit [57]. Eine Berücksichtigung der Vorbildfunktion innerhalb der Empfehlungen dieser Leitlinie scheint daher sinnvoll.

2.9 Jugendschutzgesetz (JuSchG)

Die Regelungen zu Alterskennzeichnungen von Filmen und Computerspielen für den Kinder- und Jugendmedienschutz wurden mit der Reform des Jugendschutzgesetzes zum 1. Mai 2021 grundlegend modernisiert und bieten verlässlichere und nachvollziehbarere Orientierung für Eltern, Fachkräfte sowie für Kinder und Jugendliche selbst. Auch online-basierte Film- und Spieleplattformen müssen ihre Angebote mit Alterskennzeichen versehen, die auf einer transparenten Grundlage zustande gekommen sind. Soweit sie die Alterseignung eines Mediums wesentlich prägen, finden auch Interaktionsrisiken, wie beispielsweise Chatfunktionen, Eingang in die Altersbewertung. Gleiches gilt für Kaufanreize (In-Game- und In-App-Käufe) sowie glücksspielähnliche Elemente. Durch eine Einbeziehung aller relevanten Elemente in Kennzeichnung des Alters sollen Nutzer bzw. Eltern und Fachkräfte befähigt werden, eine sichere Entscheidung hinsichtlich der Eignung zu treffen.

2.10 Risiken von dysreguliertem Gebrauch von Bildschirmmedien

Obwohl Mediennutzung im Schulalter Vorteile bietet, wie den Informationsaustausch, die Anregung von Kreativität [58] (wobei keine Studien bekannt sind, die eine langfristig kreativitätsfördernde Wirkung von Bildschirmmediennutzung belegen!), den Austausch mit Gleichgesinnten [59] oder Möglichkeiten zur Kommunikation unabhängig von geographischer Distanz [60], sind damit ebenfalls verschiedene nicht abschätzbare Risiken verbunden. Die Bedienung von Tablets und Smartphones ist in hohem Maße intuitiv und damit „kinderleicht”, so dass bereits Kinder unter drei Jahren in der Lage sind, einfache Aktivitäten wie z. B. das Wischen und Entsperren auf diesen Geräten auszuführen – und das auch regelmäßig praktizieren [61]. Bei der Regulation der Nutzung von Bildschirmmedien durch Kinder fällt nicht nur den Eltern, sondern auch den Kindertageseinrichtungen und Schulen eine Rolle zu, da die Kinder selbst noch nicht über ausreichende Regulationsmöglichkeiten verfügen [62]. Für die „Regulationsfähigkeit” ist insbesondere die Tatsache von Bedeutung, dass anders als z. B. beim Essen, wo Kinder merken können, wann sie satt sind, und bei der Bewegung, wo Kinder durch kleine Unfälle und Schmerzen unmittelbare Rückmeldungen zu riskanten Verhaltensweisen bekommen, die gesundheitlichen Risiken der zeitlich ausufernden Bildschirmmediennutzung nicht unmittelbar erlebbar sind. Für viele Menschen werden diese erst mehrere Jahre oder Jahrzehnte später wahrnehmbar. Das „Aus Fehlern lernen” ist daher nicht möglich. Hinzu kommt, dass auch die Langzeitkonsequenzen für Inhalte oft erst später evident werden, wie beispielsweise die Privatsphäre gefährdende Inhalte: Ein einmal ins Internet eingestelltes Bild oder Video ist nicht mehr löschbar.

Laut Mall & Paulus stellt die Interaktion einen der wichtigsten Faktoren bei der Kindesentwicklung dar, wobei besonders die emotionale Bindung und Verfügbarkeit von Vertrauenspersonen von Belang sind [20]. Interaktionen zwischen Eltern und Kindern während der Nutzung von Bildschirmmedien sind sehr wichtig, um positives, sinnvolles und unabhängiges Nutzungsverhalten zu fördern [63]. Die Inhalte von Bildschirmmedien, der Kontext von Spielen am Bildschirm sowie das Ausmaß an Begleitung durch Erwachsene bei der Zeit vor dem Bildschirm, ist in seiner Auswirkung auf Kinder von größerer Bedeutung, als die reine Nutzungszeit [64]. Starke Nutzung mobiler Endgeräte durch Eltern ist mit weniger verbaler und nonverbaler Interaktion mit ihren Kindern [65] sowie vermutlich mit vermehrten Eltern-Kind-Konflikten assoziiert [10].

Allgemein steht übermäßiger Fernsehkonsum in Zusammenhang mit Konflikten in der Familie [66]. Kinder im Alter von 2 Jahren nehmen via „Hintergrundmedien” in höherem Maße unangemessene Inhalte nebenbei wahr, als es bei älteren Kindern der Fall ist [67]. Mittels Bildschirmmedien werden Kinder und Jugendliche vermehrt verschiedenster Werbung ausgesetzt [68]. Diese wird durch Profilerstellung des jeweiligen Nutzerverhaltens viel individualisierter gestaltet [69]. Eine weitere Studie zeigt, dass Kinder Inhalte via Youtube oder Netflix in höherem Maße konsumieren, als pädagogische Programme oder Lern-Apps [32].

Da Kinder häufig im jungen Alter aktiv und passiv mit dem Internet in Kontakt kommen, und beispielsweise im Bereich der Nutzung sozialer Medien, oftmals kompetenter als Erwachsene in ihrem Umfeld sind, ergeben sich neue Anforderungen für die Erziehung [70]. Mit der mobilen Nutzung des Internets über das Smartphone haben Eltern generell kaum noch Einsicht in die von ihren Kindern genutzten Internetinhalte, weshalb technische Lösungen zum Jugendschutz, insbesondere auf dem Smartphone, zwingend notwendig sind. Diese blockieren beispielsweise nicht-jugendfreie Inhalte, können aber von älteren Kinder mit wenig Know-how aufgehoben werden und stellen somit eine fragliche Restriktion bzw. Prävention dar. Die wenigsten Restriktionen gibt es überraschenderweise beim Thema Spielen am Smartphone: nur 62 % der Erzieher*innen, deren Kind am Smartphone spielt, machen hinsichtlich der Nutzungsdauer Vorgaben. Zwei Drittel der Eltern setzen keinerlei Optionen des technischen Jugendschutzes ein [24]. Die kleinen Geräte werden unterschätzt.

2.10.1 Übergewicht

Verschiedene Studien weisen einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Übergewicht nach [60]. Häufig vermutete Mechanismen sind dabei die verminderte körperliche Aktivität, eine erhöhte Kalorienaufnahme durch Essen vor dem Bildschirm, Effekte von dort präsentierter Werbung sowie reduzierte Schlafdauer [71]. Für Kinder im Alter zwischen 4 und 9 Jahren stellt ein täglicher TV-Konsum von mehr als anderthalb Stunden einen Risikofaktor für die Entstehung von Übergewicht dar [72]. Die Ergebnisse einer weiteren Studie mit Kindern im Alter von 2 Jahren stellt einen Zusammenhang der Erhöhung des BMI mit jeder Stunde in der Woche, in der Medien konsumiert werden, heraus [73]. Sisson et al. merken an, dass bezüglich der Entwicklung von Übergewicht nicht die Menge des Fernsehkonsums allein, sondern die Kombination aus erhöhtem Fernsehkonsum und wenig körperlicher Aktivität einen bedeutenden Faktor ausmacht [74]. Eine weitere Studie weist darauf hin, dass die Kombination aus dem Vorhandensein eines TV-Geräts im Schlafzimmer und einer erhöhten Anzahl an Stunden des Fernsehkonsums in größtem Maß mit der Entwicklung von Übergewicht in Zusammenhang steht [75].

2.10.2 Schlafstörungen

Mehrere Studien belegen, dass erhöhte digitale Mediennutzung ein höheres Risiko für Schlafstörungen nach sich zieht [76]. Als Ursachen dafür werden häufig genannt: Der Ersatz der Schlafzeit durch die Zeit vor dem Bildschirm, die psychologische Stimulation aufgrund der Medieninhalte sowie Effekte, die durch die Lichtemission der Geräte entstehen [77]. Eine erhöhte Mediennutzung sowie das Vorhandensein von digitalen Bildschirmmediengeräten im Schlafzimmer ist im Kindesalter mit einer verringerten Schlafdauer assoziiert [78]. Eine größere Anzahl an Bildschirmmedien im Schlafzimmer geht mit schlechterer Schlafqualität einher [76]. Die Nutzung von Bildschirmmedien in den Abendstunden ist bei Kindern ebenfalls mit einer kürzeren Schlafdauer verbunden [79]. Dabei ist die Bildschirmmediennutzung im Bereich der Schlafenszeit neben Schlafstörungen ebenfalls mit negativen Auswirkungen auf schulische Leistungen assoziiert [80]. Die Nutzung von Bildschirmmedien vor der Schlafenszeit steht bei Jugendlichen in Zusammenhang mit depressiven Symptomen [81] [82] [83]. Die Nutzung elektronischer Medien tagsüber kann ebenfalls mit unzureichendem Schlaf in Verbindung gebracht werden [84].

2.10.3 Augenerkrankungen

Die Gefahren des blauen Lichts von Bildschirmmedien sind Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen [85]. Eine längere Smartphone-Nutzung erhöht, insbesondere bei Kindern, Augenerkrankungen, einschließlich Myopie (noch wachsender Augapfel bis etwa 4 Jahren), Asthenopie und Erkrankungen der Augenoberfläche [86]. Myopie ist die Augenerkrankung mit dem schnellsten Anstieg der Prävalenz weltweit und entwickelt sich mit einem Häufigkeitsgipfel im Alter von 13 bis 15 Jahren. Obgleich die Ursache der Myopie komplex ist, werden neben genetischen Dispositionen, Lebensstilfaktoren in der Kindheit, wie z. B. wenig Zeit im Freien und augennahe Arbeit, wie Lesen und Smartphone-Nutzung, als Risikofaktoren vermutet [87].

2.10.4 Entwicklungsstörungen (Feinmotorik, Grobmotorik, Sprache)

Der Austausch unter Ärzt*innen, Erzieher*innen, und weiteren Expert*innen im Rahmen der Erstellung dieser Leitlinie ergab, dass viele davon überzeugt sind, dass die Entwicklung in vielen Dimensionen erheblich mehr leidet, als Studien bisher beweisen konnten. Diverse Studien bestätigen einen Zusammenhang von Fernsehkonsum in der Kindheit und späteren Verzögerungen in der kognitiven [88], sprachlichen [13] [21] [55], sozialen und emotionalen Entwicklung [89] sowie mit Hyperaktivität [90]. Kinder unter 30 Monaten verzeichneten Schwierigkeiten, aus zweidimensional dargebotenen Inhalten zu lernen, da sie die Übertragung in die dreidimensionale Welt nicht in dem nötigen Ausmaß leisten konnten. Dies wird den im Vergleich zu Erwachsenen noch nicht ausgereiften Fähigkeiten im symbolischen Denken, der Aufmerksamkeitskontrolle sowie der Flexibilität des Gedächtnisses zugeschrieben [91]. Bei Kindern zwischen 2 und 3 Jahren konnte ein positiver Zusammenhang von Bildschirmzeit und einem niedrigerem Entwicklungsstatus im Alter von 5 Jahren nachgewiesen werden [12]. Eine weitere Studie fand einen negativen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Fernsehkonsums im Kleinkindalter und den späteren grobmotorischen Fähigkeiten [92].

2.10.5 Bindungsstörung

Die Zeit nach der Geburt ist für den Aufbau und die Entwicklung einer sicheren Bindungsbeziehung zwischen dem Säugling und der Bezugsperson von großer Bedeutung. In dieser Phase sollte die Eltern-Kind-Interaktion durch möglichst wenige Unterbrechungen und eine erhöhte elterliche Sensitivität gekennzeichnet sein [93]. Insbesondere die elterliche Feinfühligkeit sowie das verlässliche Reagieren auf die kindlichen Bedürfnisse in Form von Körperkontakt, Blickkontakt und Aufmerksamkeitszuwendung stellt eine Herausforderung dar und wird durch die gleichzeitige Nutzung von digitalen Bildschirmmedien zusätzlich erschwert [94]. Ein analoges Paradigma zur Auswirkung der verringerten Reaktion und Interaktion der Eltern auf die kindlichen Bedürfnisse zeigt die „Still-Face-Aufgabe”. Dabei wird die Bezugsperson aufgefordert, in Interaktion mit dem Kind in ihrer Mimik und Gestik zur erstarren. Das Kind reagiert vermehrt gestresst, irritiert und verunsichert auf die erstarrte Mimik und Gestik, und fordert durch Gestikulieren und Mimik bis hin zum Weinen, eine resonante Antwort der Bezugsperson ein [95]. Ähnliche Reaktionen des Kindes werden durch die Aufmerksamkeits-Abwesenheit der Eltern aufgrund von digitalen Endgeräten ausgelöst [96] auch „Phubbing” genannt [97]. Zudem wurde gezeigt, dass die Nutzung von Bildschirmmedien mit einem erhöhten Verletzungsrisiko bei abgelenkten Eltern, einer reduzierten Eltern-Kind-Interaktion und einer verringerten Aufmerksamkeit einhergeht [94]. Demnach setzten sich Eltern während des Gebrauchs von Bildschirmmedien weniger mit den kindlichen Bedürfnissen auseinander und zeigen zudem unzuverlässige Reaktionen auf das Kind [96]. Dies belastet die Eltern-Kind-Beziehung und hat Auswirkungen auf die weiteren Beziehungen zu anderen Personen. Diese frühen Beziehungserfahrungen, geprägt durch eine geringere Interaktion und geringere Verlässlichkeit der Reaktion auf die kindlichen Bedürfnisse, wirken sich auf die Fähigkeit zur Empathie aus und beeinflussen auch die Entwicklung weiterer zwischenmenschlicher Beziehungen [7]. Je weniger Empathiefähigkeit durch die Eltern-Kind-Interaktion ausgebildet werden konnte, desto mehr Schwierigkeiten entstehen potentiell im Aufbau von mitmenschlichen Beziehungen [7]. Diese ungünstigen Bindungsverhältnisse sowie fehlende Empathieausbildung begünstigen insbesondere einen erhöhten Rückzug in die digitale Welt, bis hin zum pathologischen Gebrauch von Bildschirmmedien [98].

2.10.6 Verhaltensstörungen

Die Prävalenz von mit Bildschirmmedien assoziierten Verhaltensstörungen bei deutschen Kindern und Jugendlichen wurde bereits vorpandemisch auf 3 bis 5 % geschätzt. Mit Bildschirmmedien assoziierte Verhaltensstörungen entstehen aufgrund von dysfunktionalen Lernprozessen in Kombination mit allgemeinen und spezifischen Risikofaktoren [99]. Es zeigen sich vermehrt signifikante Zusammenhänge zwischen Gewaltdarstellungen in Medien und aggressivem Verhalten bei Kindern [58]. Allerdings hat Gewaltmedienkonsum zwar Auswirkungen auf kurzfristige Gewaltbereitschaft (state aggression), weniger aber auf langfristige Gewaltbereitschaft (trait aggression). Die aktuellen Wirkmodelle gehen von Empathieverlust als Folge von Gewaltmedienkonsum aus, so dass es in kritischen Situationen statt Hemmung zu einer Fortsetzung der Gewalthandlungen kommt. Auch die Darstellung von gesundheitsschädlichem Verhalten in Bildschirmmedien kann dieses bei Jugendlichen als normativ oder wünschenswert erscheinen lassen [100]. So ist die Exposition von Jugendlichen mit den Themen Alkoholkonsum [34], Tabakkonsum [101] oder Sexualität [102] über Bildschirmmedien mit einem früheren Beginn dieser Verhaltensweisen verbunden. Ein früher Beginn der Mediennutzung, eine höhere Mediennutzungszeit sowie Inhalte von geringerer Qualität stehen bei Vorschulkindern in Zusammenhang mit verminderter Impulskontrolle, verminderter Selbstregulation und niedrigerer mentaler Flexibilität [103]. Zwar deutet die vorliegende Evidenz auf einen Zusammenhang zwischen Medien und ADHS-bezogenen Verhaltensweisen wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität [104] hin, aber auch hier gibt es Hinweise darauf, dass individuelle Unterschiede zwischen den Kindern, wie z. B. Geschlecht und Aggressionsmerkmale, diesen Zusammenhang beeinflussen [105].

Die Nutzung von Unterhaltungsmedien während schulischer Aufgaben kann bei Kindern und Jugendlichen zudem das Lernen [106] und die Kreativität [1] negativ beeinflussen. Negative Effekte eines niedrigen sozioökonomischen Status auf die exekutiven Funktionen bei Kindern im Vorschulalter werden durch die Kombination aus unangemessenen Medieninhalten und inadäquater Medienregulation durch die Eltern verstärkt [107]. Erhöhte Nutzung von Bildschirmmedien durch Eltern birgt Gefahren für die emotionale und soziale Fehlentwicklung der Kinder [58]. Untersuchungen deuten darauf hin, dass in Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status eine Kombination aus unangemessenem Medieninhalt und inadäquater Medienregulation durch die Eltern die negativen Effekte auf die exekutiven Funktionen bei Kindern im Vorschulalter verstärkt [107].  Studien sprechen ebenfalls von einem Zusammenhang von im TV präsentierten Rollenstereotypen und der Ausbildung von Selbstachtung bei Kindern [108]. Die Nutzung sozialer Medien steht mit verminderter Zufriedenheit und vermindertem Wohlbefinden in Zusammenhang [109]. Das Folgen der Nutzerprofile fremder Personen innerhalb sozialer Medien, in Kombination mit einer vermehrten Tendenz zum sozialen Vergleich, ist mit depressiven Symptomen assoziiert [110].

2.10.7 Internetnutzungsstörungen (Internetsucht)

Die übermäßige Nutzung von Onlinemedien durch Kinder birgt die Gefahr, ein problematisches Internetverhalten zu entwickeln [111]. Ebenso ist die starke Nutzung von Videospielen mit einem erhöhten Risiko für ein gestörtes Internetverhalten verbunden [112]. Aus internationalen Studien geht hervor, dass 4 bis 8 % der Kinder und Jugendlichen bereits 2014 ein problematisches Internetverhalten zeigten [113]. Zahlen aus Deutschland belegten bereits vor der Pandemie eine deutlich Zunahme der Prävalenz einer Internetnutzungsstörung bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren von 3,3/3,0 % (Mädchen/Jungen) im Jahr 2011 auf 8,6/6,7 % im Jahr 2019 [114]. Im Zusammenhang mit problematischem Internetverhalten und gestörtem Onlinespielverhalten treten Symptome auf, die von anderen Suchterkrankungen bekannt sind. Dazu gehören nach den Merkmalen für Verhaltenssüchte in der ICD-11, in der die Computerspielstörung als Erkrankung aufgenommen wurde, ein Verlust der Kontrolle darüber, wann, wie oft, wie lange und in welchen Kontexten das Verhalten ausgeübt wird, eine zunehmende Priorität der Aktivität im Leben der Betroffenen und eine Fortsetzung des Verhaltens trotz des Vorliegens von negativen Folgen. Weiterhin gilt, dass eine Beeinträchtigung durch das Mediennutzungsverhalten vorliegen muss, damit die Diagnose gestellt werden kann [115]. Im DSM-5 werden für die Internet Gaming Disorder noch weitere Merkmale wie Eingenommensein, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung, dysfunktionale Emotionsregulation und Verheimlichen des eigentlichen Ausmaßes des Verhaltens genannt [116]. Folgen der Störungen können Konflikte mit den Eltern und anderen Personen, die Vernachlässigung von Aufgaben, sozialen Kontakten, Job, Schule und Hobbys sowie Leistungsabfall, Vereinsamung und gesundheitliche Folgen sein. Psychische Störungen wie Angst oder Depression treten häufig gemeinsam mit der Internetnutzungsstörung auf und können vorausgehen oder als Folge entstehen. Eine Reihe von Erhebungsinstrumenten wurde für derartige Störungen entwickelt, welche entweder spezifisches Verhalten (Nutzen von Computerspielen oder Nutzen sozialer Netzwerke) erfassen oder die allgemeine Internetnutzungsstörung. Für den letzten Bereich hat sich u. a. die Compulsive Internet Use Scale (CIUS) als praktikabel erwiesen, obgleich es hier nur bedingt eine Validierung für Jugendliche (Langversion ab 14 Jahren) gibt. Der CIUS ist ein Selbsttest bestehend aus 14 Aussagen über den privaten Internetkonsum, der das Ausmaß der Internetnutzungsstörung misst [117] und welcher im Bedarfsfall Eltern und Ärzt*innen als Indikation dienen kann, professionelle Hilfe zu erwägen. Weiterhin besteht eine in Deutschland validierte Kurzform mit 5 Kriterien [118]. Diese ist auf der Internetseite dia-net.com verfügbar (dia-net.com/index.php?seite=screening). Ebenfalls lässt sich auf dieser Website ein vollstandardisiertes diagnostisches Interview durchführen (dia-net.com/index.php?seite=online_diagnostik).

2.10.8 Mobbing und sexuelle Belästigung

In Deutschland waren 5 % der 6 bis 13-Jährigen bereits 2018 mit diskriminierenden (z. B. sexistischen, rassistischen) Medieninhalten in Kontakt gekommen und 4 % sind auf Ängstigendes gestoßen. Jungen kamen dabei tendenziell früher als Mädchen mit für ihr Alter inadäquaten Inhalten in Berührung. Im Allgemeinen nimmt die Wahrscheinlichkeit, mit inadäquaten Internetinhalten in Kontakt zu kommen, mit dem Alter zu [24]. Internet-Mobbing stellt eine weitere Gefahr dar und steht mit negativen Auswirkungen im sozialen, akademischen und gesundheitlichen Bereich in Zusammenhang [119]. Bei Internetmobbing besteht das Problem, dass das Opfer jederzeit erreicht werden kann, sobald Onlinemedien genutzt werden. Opfer von Internetmobbing zeigen ein höheres Ausmaß an Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen [60]. Was soziale Medien betrifft, beinhalten diese stets das Risiko von Verletzungen der Privatsphäre und unerwünschter Verbreitung privater Inhalte, welche im Anschluss nur schwer zu entfernen sind [120]. Das Internet birgt zudem die Gefahr für Kinder, im Kontext sozialer Netzwerke, Chatrooms oder Onlinespielen sexueller Belästigung ausgesetzt zu werden [121]. Bei Jugendlichen bestehen große interindividuelle Unterschiede in Bezug auf das Verständnis von Schutzmaßnahmen der Privatsphäre innerhalb von Medien. Auch ein großer Teil der Jugendlichen, die ein hohes Verständnis aufweisen, führen die möglichen Schutzmaßnahmen oft nicht durch [122].

2.10.9 Glücksspiel

Während Glücksspiel für Minderjährige in Deutschland verboten ist, gibt es insbesondere im Internet das simulierte Glückspiel, welches viel höhere Gewinnausschüttungen hat und welches für Kinder und Jugendliche erlaubt ist. Mit dem Gefühl der Beherrschbarkeit von Glücksspielen wechseln die Kinder und Jugendlichen in die nur unzureichend geschützten Zugänge zu „echten” Glücksspielen, auch in sozialen Medien [123]. Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer entwicklungsbedingten und kognitiven Naivität sowie ihrer Empfindlichkeit gegenüber Gruppendruck und Marketing anfällig für Glücksspiele. In-Game- oder In-App-Angebote sind für Kinder oft nur schwer erkennbar. Käufe haben ungewollt hohe Mobilfunkrechnungen zur Folge, es bestehen Abo- und Kostenfallen. Die Prävalenz des Online-Glücksspiels nimmt bei Kindern und Jugendlichen zu, wobei einige Jugendliche, die Glücksspiele spielen, eine Glücksspielstörung entwickeln. Laut des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) liegt ein pathologisches Glücksspielverhalten vor, wenn innerhalb eines Zeitraumes von 12 Monaten vier von neun bezeichnenden Kriterien erfüllt sind [124]. Obgleich Glücksspiel für Jugendliche verboten ist, lag bereits 2015 die Prävalenz der Störung bei 14- bis 17-Jährigen über denen Erwachsener, wie aus einer repräsentativen Studie aus Deutschland hervorgeht [125]. Jugendliche, die Probleme mit dem Glücksspiel aufweisen, haben tendenziell ein geringeres Selbstwertgefühl und eine Vorgeschichte von Hyperaktivität und Impulsivität, sie haben mit größerer Wahrscheinlichkeit spielende Eltern, berichten von weniger elterlicher Aufsicht und konsumieren mehr Alkohol als ihre Altersgenossen [126]. Studien belegen, dass das Geschlecht, das Verhalten der eigenen Eltern und ausgeprägte Internetaktivitäten zu den besten Vorhersagevariablen für Online-Glücksspiel gehören [123]. Die von den Eltern ausgeübten Sicherheitspraktiken haben oftmals keinen Einfluss auf das Ausmaß des Online-Glücksspiels, was die Notwendigkeit spezifischer Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Phänomens zeigt, da die Bereitstellung von einfacher Aufklärung über die Gefahren in dieser Hinsicht nicht ausreicht. Das effektive Management von Glücksspielstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfordert eine enge Zusammenarbeit mit den Familien [123] [126]. Da Prepaid-Verträge jeweils nur den Zugriff auf das aufgeladene Guthaben erlauben, können sie bei der Kostenlimitierung helfen und ein effektives Management von Glücksspielstörungen über die Begrenzung des Zugangs zu kostenpflichtigen Angeboten unterstützen. Ein inadäquates Nachkaufen von Prepaid-Guthaben kann jedoch insbesondere bei älteren Jugendlichen unkontrollierbar sein. Hilfreich sind in diesen Fällen Prepaid-Verträge, deren Aufladungen und Abbuchungen in einem Nutzerkonto einsehbar sind.

2.10.10 Strahlung

Durch die flächendeckende Präsenz von Mobilfunkgeräten und anderen Drahtlosnetzwerken sind die meisten Menschen ständig hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt. Dabei sind die Auswirkungen dieser Strahlung auf die menschliche Gesundheit nach wie vor unklar. Belastbare Forschungsergebnisse, größtenteils aus Tierversuchen, deuten auf zelluläre Veränderungen bis hin zur Tumorpromotion durch elektromagnetische Felder hin [127]. Inwieweit dies auf Menschen übertragbar ist, wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert und ein eindeutiger Zusammenhang mit Erkrankungen wie Krebs, Depressionen, Schlafstörungen, Suchtverhalten, Unfruchtbarkeit oder Elektrohypersensibilität liegen bisher nicht vor [128]. Gefahren für die menschliche Gesundheit können jedoch gerade bei Kindern beim derzeitigen Forschungsstand nicht ausgeschlossen werden, weshalb die Internationale Agentur für Krebsforschung, eine Gesellschaft der WHO, hochfrequente elektromagnetische Felder als möglicherweise krebserregend für den Menschen einstuft (Gruppe 2B). Dies ist eine Kategorie, die verwendet wird, wenn ein kausaler Zusammenhang als glaubwürdig angesehen wird, aber Zufall, Verzerrungen oder Verwechslungen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können [129]. Vom wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen wird Mobilfunk als Risikotechnologie eingestuft [130]. Das Bundesamt für Strahlenschutz rät, die Exposition durch hochfrequente elektromagnetische Strahlung insbesondere für Kinder und Jugendliche zu minimieren, da diese gesundheitlich empfindlicher reagieren könnten [131].

2.11 Bildschirmmedien in der Schwangerschaft

Schwangere nutzen das Internet, um soziale Unterstützung bei anderen Schwangeren zu suchen, spezifische Probleme zu recherchieren, Rat zu erhalten oder Informationen zu Hausmitteln zu finden sowie zur Teilnahme an Diskussionsgruppen und zur Information über pränatale Tests [132] [133]. Es ist anzunehmen, dass ein Großteil aller Schwangeren mindestens eine, wenn nicht mehrere Schwangerschafts-Apps auf ihrem Smartphone nutzt [134]. Die übermäßige Nutzung von Bildschirmmedien kann dosisabhängig jedoch zu gesundheitlichen Problemen führen: So wird vermutet, dass digitale Medien schon vorgeburtlich direkt und indirekt auf Eltern, Kind, deren Beziehung und Lebenswelt Einfluss haben [135]. Für Verhaltensauffälligkeiten konnte bereits ein Zusammenhang zwischen dem mütterlichen Gebrauch von Mobiltelefonen während der Schwangerschaft und einem erhöhten Risiko für Verhaltensprobleme, insbesondere Hyperaktivität, bei den Kindern nachgewiesen werden [136]. In einer 2008 publizierten Erhebungsstudie war die Handynutzung der Mütter in der Schwangerschaft mit einer um 50 % erhöhten Wahrscheinlichkeit mit Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder im Alter von 7 Jahren assoziiert [137]. Mütter haben das Smartphone auch während des Schlafens in ihrer Nähe. Befragte Mütter konnten sich vorstellen, Bildschirmmedien weniger zu nutzen und beispielsweise mehr mit ihrem Ungeborenen zu sprechen [134]. Eine bibliographische Analyse von Publikationen der letzten 15 Jahre, die sich mit der Nutzung von Bildschirmmedien während der Schwangerschaft auseinandersetzen, ergab, dass weiterhin großer Forschungsbedarf besteht [138].

2.12 Bildschirmmedien und Kinder mit besonderen Bedürfnissen

Bildschirmmedien bieten das Potenzial, Kindern mit besonderen Bedürfnissen in verschiedenen Lebensbereichen neue Möglichkeiten zu eröffnen. Für Menschen mit Behinderungen sind Computer als Hilfsmittel zur Bewältigung von Aktivitäten des täglichen Lebens zu Hause und am Arbeitsplatz weithin akzeptiert und werden institutionell unterstützt. Bildschirmmedien halten dabei auf zwei Seiten Einzug in die Aktivitäten des täglichen Lebens von erwachsenen Menschen mit Behinderungen: Zum einen bieten Bildschirmmedien Unterstützung für traditionelle Offline-Aufgaben, wie Kommunikation oder Orientierung. Zum anderen etablieren Bildschirmmedien durch ihre Allgegenwärtigkeit in jedem einzelnen gesellschaftlichen Teilsystem (Bildung, Politik, Ökonomie, Gesundheit etc.) einen neuen Zugang zu gesellschaftlichen Angeboten und Diskursen [139] [140]. Für die Bedeutung des täglichen Lebens von Kindern liegen derzeit keine Publikationen vor, es kann aber von ähnlichen Mechanismen ausgegangen werden [139] [140]. Diese Verlagerung sozialer Interaktion in digitale Netze unterstützt die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, da bestimmte Einschränkungen abgebaut werden. Zugleich entstehen aber auch neue Barrieren (Zugänglichkeit, Kompetenzen usw.). Es ist zu berücksichtigen, dass der kompetente Umgang mit Bildschirmmedien heute eine sehr hohe Relevanz hat, insbesondere in Bezug auf das spätere berufliche Fortkommen. Fehlen der Zugang zu oder Kompetenzen im Umgang mit Bildschirmmedien, kann dies die gesellschaftliche Teilhabe gefährden. Neben den Chancen und Barrieren, bergen Bildschirmmedien aber auch handfeste Risiken, insbesondere für Menschen mit einer kognitiven Einschränkung. Wenn digitale Inhalte nicht richtig verstanden oder eingeordnet werden können, steigt das Risiko, dass Inhalte verstören oder die Nutzer Opfer von Betrug und Missbrauch werden. Ein weiteres Risiko liegt in der Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich privater und öffentlicher Inhalte und der damit verbundenen Gefahr einer ungewollten Exposition [141]. Es besteht also die Herausforderung für Eltern und Betreuer, den Kontakt von Menschen, insbesondere Kindern mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen im Umgang mit Bildschirmmedien so zu gestalten, dass sie von diesen profitieren, sie ihre Rechte in gleicher Weise wahrnehmen können wie andere Menschen und ihre Sicherheit gewährleistet ist.